Wie verwundbar ist die deutsche Justiz bereits heute?

Charlotte Blech, LL.M. (UCLA)

Blogbeitrag

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08.12.2025

Für Deutschland ist der gerichtliche Rechtsschutz so selbstverständlich, dass in der Diskussion über aktuelle Probleme (Verfahrenslaufzeiten, Digitalisierung, Nachwuchssorgen) die wesentlichen Eigenschaften in den Hintergrund treten: Neutralität und leichter Zugang, gesetzes- und rechtsgebundene Entscheidungen ohne Ansehen der Person. Mit Blick auf das Erstarken autoritärer Kräfte in demokratischen Staaten in Europa und Amerika wird auch hierzulande die Frage immer relevanter: Wie verwundbar ist die deutsche Justiz bereits jetzt?  

Dieser Frage geht der Verfassungsblog mit seinem Justiz-Projekt nach. Dabei geht es vor allem darum, Wissen über die Verwundbarkeit und Resilienz der deutschen Justiz – teils erstmalig – überhaupt zu gewinnen und allgemein zugänglich zu machen. Die zentrale Annahme ist, dass autoritär-populistische Akteure auf einen Zustand hinarbeiten, in dem sie nur noch schwer oder gar nicht mehr demokratisch abgewählt werden können. Dabei sprechen die Mitarbeitenden des Justiz-Projektes bewusst von den autoritär-populistischen Kräften allgemein und nicht (nur) von einer bestimmten Partei. Ihre Erkenntnisse haben sie in einem Buch „Das Justiz-Projekt. Verwundbarkeit und Resilienz der dritten Gewalt“ zusammengefasst, das am 02.12.2025 erschienen ist.

 

Wie ging der Verfassungsblog vor?

 

Über einen Zeitraum von elf Monaten haben sie dafür Recherchegespräche mit Richterinnen und Richtern, Verbandsvertreter und Verbandsvertreterinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Vertreter der Staatsanwaltschaft und Justizministerien geführt (darunter auch Anwältinnen und Anwälten dieser Kanzlei). In Fragebögen haben sie bei den Landesjustizministerien typische Abläufe abgefragt, etwa bei der Einstellung von Bewerbern oder bei der Aufstellung von Haushaltsplänen. Sie haben dabei Landesverfassungen, Gesetze und Verordnung auf Länder- und Bundesebene einbezogen, um einen Überblick über die derzeitige Rechtslage zu erhalten. Anhand dieser Untersuchungen haben sie nach bestehenden institutionellen und organisatorischen Schwachstellen gesucht. Sie haben herausgearbeitet, welche Hebel bereits heute zur Durchsetzung bestimmter Interessen verwendet werden (können) und Szenarien zum Missbrauch entwickelt.

 

Was ist unter solchen „Szenarien“ zu verstehen?

 

Diese Szenarien zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich bereits heute so ereignen könnten, ohne dass es dafür irgendwelcher Gesetzesänderungen bedarf. Dabei geht es um bewährte und in allen Bundesländern bestehende Spielräume des Organisations- und Dienstrechts, die der Verwaltung aus guten und verfassungsrechtlich tragfähigen Gründen eingeräumt werden, bei einer autoritär-antidemokratischen Einstellung handelnder Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen aber Einfallstore für die Aushöhlung und Destabilisierung rechtsstaatlicher Strukturen darstellen. Als Beispiel mag das „Wechselspur-Szenario“ gelten. Es zeigt auf, wie die autoritär-populistische Leitung eines Landesjustizministeriums Beförderungs-, Beurteilungs- und Verwendungsentscheidungen strategisch für seine Zwecke gebrauchen könnte:

 

Durch den Laufbahnwechsel einer Bewerberin oder eines Bewerbers aus dem Richterdienst und der Besoldungsordnung R in den höheren Verwaltungsdienst (Besoldungsordnungen A und B) werden regelmäßig auch spätere Chancen für richterliche Beförderungsämter erheblich verbessert. Würde sich ein Kandidat aus der Verwaltungsverwendung heraus für ein Richteramt bewerben, haben derzeit die nach der Besoldung gestuften Statusämter der Bewerbenden einen größeren Einfluss auf die Auswahlentscheidung als die richterliche Erfahrung. Im Land Brandenburg übersteigt die Besoldung eines Ministerialrats (Besoldungsgruppe B2) die Besoldung eines Vorsitzenden Richters (R2). Ein nach R3 bewertetes gerichtliches Leitungsamt mit Dienstaufsichtsaufgaben und Beurteilungsbefugnissen (z.B. als Gerichtspräsident) könnte demnach theoretisch „fachfremd“ besetzt werden. Auch wenn hiergegen noch Einwände in einem gerichtlichen Konkurrentenstreitverfahren vorgetragen werden könnten (vgl. u.a. das Verfahren zur Besetzung der Präsidentenstelle am OVG NRW) und Ausnahmen von der Regelberücksichtigung des Statusamtes in Betracht zu ziehen sind, ergeben sich daraus Gefahren für eine Besetzungsabsicht, wonach sich Wunschkandidaten bewusst über den (Um)Weg einer Versetzung ans Ministerium für hochrangige Ämter in der Justiz qualifizieren. Das ist nur ein Beispiel der „exekutiven Prägung“, aus der heraus sich viele Folgefragen ergeben.

 

Viele weitere anschaulichen Szenarien zeigen eindrücklich auf, wo die deutsche Justiz insbesondere in den Bereichen der Richterernennung, des Beurteilungs- und Beförderungswesens, der Disziplinarverfahren, der Gerichtsorganisation, des nicht-richterlichen Personals, der IT-Infrastruktur und im Haushalt schon jetzt verwundbar ist.

 

Resilienz durch Antizipation als wesentliche Erkenntnisse

 

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Einfallstore, die schrittweise zur Delegitimierung und zu Blockaden der Justiz genutzt werden können, in verschiedene Richtungen bestehen. Zum Teil läge es an unzureichenden oder zu unbestimmten rechtlichen Regelungen, wie beispielsweise bei der Versetzung von Richtern in den (einstweiligen) Ruhestand „im Interesse der Rechtspflege“(§ 31 DRiG) aufgrund der Wahrnehmung der Öffentlichkeit von der Richterin oder dem Richter, zum Teil an der Abhängigkeit der Justiz von den Haushaltsaufstellungen durch die Parlamente und der Haushaltsbewirtschaftung durch die Landesregierungen. Besonders relevant ist die Rolle der handelnden Personen, die in der Justiz tätig sind und diese repräsentieren. In ihnen sehen die Autoren einen  wesentlichen Resilienzfaktor, weil der richterliche Berufsethos in Deutschland stark vom Ideal der Unabhängigkeit getragen sei, der darüber entscheide, wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in der Praxis gelebt würden. Deshalb schlagen die Autoren eine Reformdebatte vor, die zu einem Zeitpunkt erfolgen sollte, in dem eine parlamentarische Blockade durch autoritär-populistische Akteure (noch) nicht möglich ist.

 

Dass es keine einfachen Lösungen dafür gibt, unsere Justiz resilienter zu gestalten, zeigte sich in der anschließenden Diskussion.  Denn jedes Instrument und jeder Mechanismus, den der Gesetzgeber an die Hand gibt, kann wertvoll genutzt, aber auch missbraucht werden.  Einen Mittelweg zu finden, der zum einen die erforderliche Verschränkung der Justiz mit den anderen Gewalten und damit ihre demokratische Legitimation sicherstellt – u.a. durch den Einfluss der Exekutiven in der Justizverwaltung – und gleichzeitig ihre hinreichende Unabhängigkeit gewährleistet, ist eine der großen Herausforderungen. Das Dilemma wird im Buch wie folgt beschrieben: „Wie für die freiheitlich demokratische Ordnung insgesamt gilt auch für die Justiz, dass sie nicht alle ihre (Einfalls-)Tore schließen kann, ohne selbst autoritär zu werden.“

 

Mein Fazit:

 

Für eine Anwaltskanzlei – noch dazu eine, die auch im öffentlichen Recht tätig ist und sich tagtäglich mit Fragen des Dienst- und Disziplinarwesens befasst – sind die Themen des Justiz-Projekts ganz essenziell: Es behandelt die institutionelle Integrität der Rechtsprechung und damit eine der wesentlichen Grundlagen, auf der wir als Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen tätig sind. Die justizinternen Strukturen prägen maßgeblich die Rahmenbedingungen unserer Arbeit – von der Dauer von Verfahren bis zur Qualität rechtlicher Entscheidungen. Unsere berufliche Wirksamkeit ist mit der Resilienz der dritten Gewalt deshalb unmittelbar verknüpft. Strukturelle Schwächen stellen deshalb nicht nur ein abstraktes Systemproblem dar, sondern haben konkrete Auswirkungen auf unsere prozessuale Praxis. Gerade diese Perspektivenerweiterung ist es, die das Werk auch für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte so wertvoll macht.

Der Kopf hinter dem Beitrag.

Charlotte Blech berät zum öffentlichen Dienstrecht und Wissenschaftsrecht. Sie hat an der öffentlichen Buchvorstellung am 2.12.2025 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin und anschließender Diskussionsrund teilgenommen. Herausgegeben wird das Buch „Das Justiz-Projekt. Verwundbarkeit und Resilienz der dritten Gewalt“ von Friedrich Zillessen, Anna-Mira Brandau und Lennart Laude (Link: https://verfassungsblog.de/book/das-justiz-projekt-verwundbarkeit-und-resilienz-der-dritten-gewalt/ )

DOMBERT Rechtsanwälte

Unsere Tätigkeit umfasst alle Rechtsfragen und Konflikte, in denen der Staat, Kommunen oder Behörden beteiligt sind.